Ein dramatisches Video kursiert in den sozialen Netzwerken: Ein 92-jähriger Mann singt ein letztes Mal das gemeinsame Liebeslied für seine sterbende Frau, mit der er seit 72-Jahren verheiratet ist. Die Enkeltochter filmt den traurigen Abschied. Traurig? Nein, eher makaber. Oder würden Sie auch sofort das Smartphone zücken, wenn sich in Ihrer Familie etwas Dramatisches ergibt?

Seit einigen Tagen kursiert ein dramatisches Video in den sozialen Netzwerken: Ein 92-jähriger Mann singt ein letztes Mal das gemeinsame Liebeslied für seine sterbende Frau. Nach 72-Jahren Ehe neigt sich das Leben der Partnerin dem Ende zu. Nahaufnahme. Gänsehaut. Tränen.

Die Enkeltochter filmt die rührende Szene und veröffentlicht das Video auf Youtube. Auf Ihrer Facebook-Seite beschreibt sie das Leben ihrer Großeltern. Tausende Likes, Kommentare und Ausdruck des Mitgefühls. Zahlreiche digitale Sehnsuchtsausdrücke auch mal so geliebt werden zu wollen.

Eine traurige und kaum zu fassende Situation, an der wir teilhaben dürfen.

Aber warum können wir an diesen intimen Momenten überhaupt teilhaben?  Oder: Würden Sie Ihre Großmutter filmen, währende diese im Sterben liegt? Wer wahrt die Privatsphäre einer schutzlosen Person? Hat man ein Anspruch darauf analog und undokumentiert sterben zu dürfen?

 Sterben 2Sterben 2.0 wird Realität

Immer mehr dramatische Nahaufnahmen, fast tödliche Hai-Attacken, beinahe Todes-Unfälle, häufen sich im Netz. Manche Szenen sind an Dramatik und Spannung kaum zu überbieten. Durch die sozialen Medien verbreiten sich diese Handy-Videos wie Lauffeuer.

Privatpersonen, Unternehmen und auch „seriöse“ Zeitungen teilen die Reality-Dramatik und profitieren von den Emotionen ihrer Fans durch Interaktionen auf Ihrer Seite.

„Ein „Like“ für ein Mitgefühl“ oder „Teile den Beitrag, wenn du das traurig findest“ ist oft die Aufforderung der Seiten-Betreiber um mehr Reaktionen der Fans zu erzeugen. Ein regelrechter Dramatik-Fetisch ist bei manchen Nutzern erkennbar geworden.

 

Sterben 2-1Facebook reagiert auf den Dramatik-Fetisch

Nun reagiert Facebook auf diesen Trend: Anstatt ein „Dislike“ (Gefällt mir nicht) – Button zu installieren, wird ein „Ich fühle mit dir“ Button in Kürze verfügbar sein.

Der lang geforderte und diskutierte „Dislike“ Button, wäre für Facebook mit dem viel zu hohem Risiko verbunden gewesen, Werbekunden zu verärgern: Wenn eine Werbung eingeblendet wird, könnte der Nutzer klicken „Gefällt mir nicht“, was dann auch alle Freunde und Bekannte des Facebook-Nutzers sehen und dem gleich tun könnten. Im schlimmsten Fall könnte dann der Werbekunde dadurch mehr negative als positive Reaktionen erhalten und wird dann in Zukunft sein Werbe-Budget woanders ausgeben.

Somit folgt Facebook dem Dramatik-Voyeurismus-Trend und führt den „Aaaa, wie schlimm!“, „Soooo traurig!“ bzw. „Uh je, das arme Ding“… Button, namens „Ich fühle mit dir“ ein.

Das wird den Hype um die „Tragödien direkt aus dem Leben“ noch zusätzlich anheizen. Dadurch kann sich auch Manipulation und Propaganda noch weiter ausbreiten. Mit traurigen Hundeaugen, schmutzigen Kindern, Bildern von Obdachlosen können emotionale Botschaften transportiert werden. Auch wenn diese gar nichts mit der Herkunft und Zusammenhang des Bildes zu tun haben.

Die Nutzer auf Facebook müssen schleunigst die Verantwortung für Ihre Reaktionen im Netz übernehmen und sich auch mal die Frage stellen: Ist es nicht Pietätslos, die sterbende Großmutter zu filmen und das Material einem Millionen-Publikum zugänglich zu machen? Stellen Sie sich mal die Frage, wenn Sie an ihre  eigene Großmutter denken, die den letzten Atemzug haucht, würden Sie auch das Smartphone zücken und den Augenblick des Todes digitalisiert für die Nachfahren festhalten? Oder würde Sie selbst einfach den intimen Moment verinnerlichen, die Privatsphäre des Paares zu wahren und selber in Ruhe Abschied nehmen?